Grüne drängen vehement zur Macht

Parteitag: Die zwei Vorsitzenden mit Rekordergebnis wiedergewählt - Versuchung zu überzogenen Forderungen

BIELEFELD
3 Min.

Kommentieren

Sie müssen sich anmelden um diese Funktionalität nutzen zu können.

Auch der Schutz des Amazonasgebiets und der indigenen Völker war Thema beim Grünen-Parteitag. Hier danken die wiedergewählten Vorsitzenden Annalena Baerbock (li.) und Robert Habeck der brasilianischen Aktivistin Nara Baré. Foto: Guido Kirchner (dpa)
Foto: Guido Kirchner
Da­mit hat kei­ner ge­rech­net. »Die Grü­nen nei­gen nicht da­zu, über­schäu­mend zu sein«, sagt Jür­gen Trit­tin. Kurz dar­auf sieht sich der alt­ge­di­en­te Par­tei­fuchs ei­nes Bes­se­ren be­lehrt. 90,4 Pro­zent für Robert Ha­beck und gar 97,1 Pro­zent für An­na­le­na Baer­bock.

Da ringen nicht nur die beiden wiedergewählten Vorsitzenden um Fassung. Auch manchen Delegierten ist das Rekordergebnis nicht ganz geheuer. »Irre« nennt der Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour den Wahlausgang. Und ergänzt: Das sei »der Lohn für mitreißende Reden als Krönung von zwei Jahren grüner Erfolgsgeschichte«.

Baerbock und Habeck hatten die Parteiführung Anfang 2018 nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen übernommen. Und seitdem ging es für die Grünen tatsächlich nur bergauf. Allein die Mitgliederzahl ist um rund ein Drittel auf 94 000 gestiegen. In den meisten Bundesländern sitzen die Grünen mit am Kabinettstisch.

Roth lobt Ausgleichskurs

Kein Wunder, dass sie sich auf ihrem Parteitag in Bielefeld nun kräftig selbst feiern. Auch Claudia Roth, einst selbst rund zehn Jahre lang Parteivorsitzende, schwärmt über das alte und neue Führungsduo: »Beide haben es geschafft, dass die verschiedenen Flügel in der Partei bei ihnen zuhause sind«.

Das etwas schlechtere Abschneiden für Habeck führen manche auf die leidige K-Debatte zurück. Winfried Kretschmann, grüner Ministerpräsident in Baden-Württemberg, hatte Habeck schon zum Kanzlerkandidaten ausgerufen. Eine völlig verfrühte Debatte, zürnten viele Grüne.

An ihrem unbändigen Drang zur Macht im Bund lassen die Vorturner der Grünen allerdings keinen Zweifel. »Wir müssen nicht nur Ziele formulieren, sondern sie auch umsetzen im Hier und Heute«, ruft Baerbock den rund 800 Delegierten unter starkem Applaus zu. »Wir sind keine Bürgerbewegung mehr. Wir sind eine politische Kraft, die den Auftrag zur Gestaltung hat«, betont Habeck. Die Grünen hätten in den vergangenen Jahren »so viel Hoffnung geweckt«. Jetzt müsse man »aus Hoffnung Wirklichkeit machen«.

Auch der Redebeitrag von Winfried Kretschmann ist von diesem Gedanken geprägt: »Es wächst uns eine Rolle zu, nicht nur mitzugestalten, sondern auch mitzuführen«. Dafür bekommt er ebenfalls riesigen Applaus.

In die allgemeine Euphorie mischen sich allerdings leise Zweifel. »Das ist ein Wohlfühlparteitag hier«, analysiert der Bundestagsabgeordnete Tobias Lindner. Er sehe aber mit »Sorge«, wenn die Umfragewerte wieder zurückgingen. Dann müsse man »die Nerven behalten«.

Was Lindner beschreibt, ist praktisch schon im Gange. Aktuell liegen die Grünen bei rund 20 Prozent in der Wählergunst. Das war auch schon deutlich mehr. Gleichzeitig konstatieren Demoskopen, dass die Partei fast ausschließlich wegen ihrer Umweltpolitik gewählt wird. Andere Themen spielen fast keine Rolle.

Die Parteistrategen haben daraus Konsequenzen gezogen: Bereits zum Auftakt des Bielefelder Delegiertentreffens ist eine mehrstündige Debatte zum aktuellen Reizthema Mieten und Wohnen angesetzt.

Enteignung »letztes Mittel«

Dabei wird schnell deutlich, dass die Versuchung groß ist, überzogene Forderungen aufzustellen, die sich bei einer möglichen Regierungsbeteiligung kaum oder gar nicht durchsetzen lassen. Eine Delegierte aus Berlin- Kreuzberg pocht auf konsequente Enteignungen von Wohnungskonzernen. Habeck kontert, die Grünen dürften nicht das Signal aussenden, Bauen lohne sich nicht mehr. Am Ende folgt der Parteitag dem Vorstandsantrag, Enteignungen nur als »letztes Mittel« anzuwenden.

Auch in der Wirtschafts- und Klimadebatte sind manche geneigt, den Bogen zu überspannen. Um die Treibhausgase in den Bereichen Klima und Verkehr »sozialverträglich« zu reduzieren, schlägt der Vorstand als Kompromiss vor, den Einstiegspreis pro Tonne CO2 im kommenden Jahr auf 60 Euro festzulegen - und geht damit schon weit über das Klimapaket der Koalition hinaus. Dort sind lediglich 10 Euro vorgesehen.

Derweil wird in einem Gegenantrag die Forderung der Klimaschutzbewegung »Fridays for Future« aufgegriffen und ein Einstiegspreis von 80 Euro verlangt. Doch auch hier setzt sich am Ende die Linie der Grünen-Parteiführung durch. > Seite 3

Hintergrund: Beschluss zu 60 Euro pro Tonne Kohlendioxid, Mindestlohn, Wohnungstausch

Hier ein Blick auf wichtige Beschlüsse des Grünen-Parteitags:

Klimaschutz: Die Partei bleibt bei ihrer Forderung, schon bis 2030 aus der Kohle auszusteigen und ab 2030 keine Pkw mit Verbrennungsmotoren neu zuzulassen. Eine Änderung gab es beim CO2-Preis: 2020 soll er pro Tonne nun bei 60 Euro liegen und danach pro Jahr um 20 Euro ansteigen - allerdings soll ein Gremium soziale Auswirkungen kontrollieren und gegebenenfalls eingreifen. Der Kohlendioxid-Preis soll fossile Kraftstoffe, Heizöl und Erdgas verteuern. Die Große Koalition will mit 10 Euro im Jahr 2021 einsteigen und bis 2025 zunächst auf 35 Euro gelangen.

Wirtschaft: Die Grünen fordern einen sozialen und ökologischen Umbau der Marktwirtschaft. Die Schuldenbremse soll für den Bund im Rahmen der EU-Regeln gelockert werden, damit der Staat viel mehr investieren kann. Ein Bekenntnis zur Schuldenbremse für die Bundesländer wurde aus dem Leitantrag des Bundesvorstands gestrichen. Es war die einzige Abstimmung, in der die Delegierten sich gegen den Vorstand durchsetzten - andere Konflikte wurden durch Änderungen der Texte beigelegt. Der Mindestlohn soll von 9,19 auf 12 Euro pro Stunde angehoben werden. Das fordern auch Linke und SPD.

Wohnen: Den Beschluss, der für das größte Aufsehen sorgte, fassten die Grünen gleich zu Beginn des Parteitags. Sie verabschiedeten ein umfassendes Programm gegen steigende Mieten und Wohnungsmangel. Den Anstieg der Mieten in bestehenden Mietverträgen wollen sie bei drei Prozent pro Jahr deckeln. Mieter sollen ein Recht darauf bekommen, untereinander ihre Mietverträge zu tauschen. So sollen zum Beispiel Familien in größere und Singles in kleinere Wohnungen ziehen können, ohne einen neuen - und oft viel teureren - Mietvertrag abzuschließen. Das Recht auf Wohnen soll ins Grundgesetz, um es im Fall von juristischen Abwägungen zu stärken. Für den Bau von Sozialwohnungen soll es ein Investitionsprogramm des Bundes von mindestens drei Milliarden Euro jährlich geben. Im Gegenzug soll das Baukindergeld abgeschafft werden. (dpa)

Hintergrund

» Das ist einWohlfühlparteitag hier. «

Tobias Lindner,Grünen-Bundestagsabgeordneter

Hintergrund

» Wir müssen nicht nurZiele formulieren, sondern sie auch umsetzen. «

Annalena Baerbock,Grünen-Vorsitzende

Kommentare

Um Beiträge schreiben zu können, müssen Sie angemeldet und Ihre E-Mail Adresse bestätigt sein!


Benutzername
Passwort
Anmeldung über Cookie merken
laden
Artikel einbinden
Sie möchten diesen Artikel in Ihre eigene Webseite integrieren?
Mit diesem Modul haben Sie die Möglichkeit dazu – ganz einfach und kostenlos!