Kommentar des Tages: zur Pandemie, die zusehends als Unterhaltungs-Show präsentiert wird
"Charakterlos und menschlich erbärmlich"
Die Pandemie wird zur großen Unterhaltungs-Show: ein bisschen Spannung (wie viele werden dafür stimmen? 64 Prozent – und die lassen sich in freier Wildbahn wirklich alle impfen, wenn's der Staat so will?); ein bisschen prollig (Wäre Kubicki erwischt worden, hätte er nach eigenem Bekunden gesagt: »Was weiß ich? 250 Euro Bußgeld?«).
Entertainment eben: Jeder macht mit, keiner ist dabei. Mit jeder neuen Verschärfung der Regeln melden sich – je nach Betroffenheit – Gastronomie, Hotellerie, Einzelhandel, Kultur, Sport, Weihnachtsmarktstandbetreiber, Wellness-Einrichtungen – mit dem stereotyp gewordenen Hinweis, selbst doch kein Pandemietreiber zu sein. Die Infektionszahlen kommen – den soundsovielten »Tag in Folge neue Rekordwerte« plärrt es da jeden Morgen beim Zähneputzen um 7 Uhr – allenfalls noch aus dem Radio, die TV-Reportagen von den Intensivstationen werden mit dramatischer Musik unterlegt und sind spannender als jeder »Tatort«: Da betreiben die Drehbuchautoren doch nur noch psychologische Nabelschau durchgeknallter Kommissare, aber die im Ganzkörperschutz und jene an den Schläuchen mit den verpixelten Gesichtern sind das wahre Leben.
Verlass ist nur noch auf den FC Bayern München, die Mannschaft ist das erstklassige Abbild der Gesellschaft und ihrer derzeitigen Situation. Es gibt eine Impfdebatte innerhalb der Mannschaft, es gibt Quarantäne- und damit Ausfälle auf dem Spielfeld, das Team verliert. Es folgen Konsequenzen für die betroffenen Spieler – und, so melden es Medien, zumindest einige von denen denken an rechtliche Schritte gegen angekündigte Gehaltskürzungen für die Zeit, in denen sie ihrem Arbeitgeber nicht zur Verfügung stehen.
»Am Ende musst du daran wachsen und füreinander da sein«, sagte Bayern-Trainer Julian Nagelsmann am Montag. (Solche Sätze haben die in den Pflegeberufen ja im vergangenen Jahr bereits gehört.) Die Corona-Verordnung Thüringens besagt, dass für Veranstaltungen im Freien maximal 2000 Besucher zugelassen sind. Erfurts SPD-Oberbürgermeister Andreas Bausewein gliedert deshalb den Weihnachtsmarkt in drei Teile und kann so 6000 Menschen gleichzeitig Zutritt gewähren. Für dieses Jahr zweifellos ein Rekord in Erfurt, charakterlos und menschlich erbärmlich.
Stefan Reis
