Im Blick zurück entstehen die Dinge

Alternative-Rock: Tocotronic erinnern uns in der Frankfurter Batschkapp an die, die wir einmal waren - Reise auf der Gefühls-Klaviatur

FRANKFURT
2 Min.

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Un­ge­fähr al­le zehn Jah­re be­su­che ich ein To­co­tro­nic-Kon­zert. Da­zwi­schen ent­de­cke ich im­mer mal wie­der ei­nen ih­rer neu­en Songs, den­ke mir: »Huch, ist der gut«, um ihn dann wie­der zu ver­ges­sen.

Meist kommt mir das Leben dazwischen, der Alltag zwischen Schulbrote fürs Kind schmieren, die Steuerablage machen und lästiger Erwerbsarbeit nachgehen.

Extrem-Fan bin ich also nicht. Und doch gehört das Werk der Band der einstigen Hamburger Schule (Blumfeld, Die Sterne und wie sie alle hießen) mit den extralangen Songtiteln wie »Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit« oder »Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein« zu meiner Lebensmusik, die mich geprägt hat, mittlerweile 30 Jahre und 13 Alben lang.

Los ging es Mitte der Neunziger. Wir hatten den Führerschein in der Tasche und fuhren zum Toco-Konzert. Raus aus der Provinz, Hamburg sollte es sein. Dort, wo wir herkamen, war es zu eng war, zu langweilig und überhaupt: Wir wollten doch mehr als das!

Hymne für kleine Städte

Den kleinen Städten unserer Großwerdens hat die Band eine Hymne gewidmet: »Aber hier leben, nein danke!«. Wir fühlten das sehr, sangen bis wir schrecklich heiser waren und verschütteten Bier. Einer im Publikum verlor seine Kontaktlinsen, die Band unterbrach das Konzert, das Licht ging an und wir krabbelten auf dem Boden rum, bevor es weiterging. Wunder der Jugend. Miteinander groß werden und dann diese Musik dazu, schön war das.

Jetzt also wieder. Diesmal Frankfurt. Rund zehn Jahre nach dem letzten Konzert, das damals im Offenbacher Capitol war. Inzwischen sind wir alle längst in den »besten Jahren«. Die Haare werden weniger oder grau. Man kann nicht mehr viel Bier trinken, fühlt sich sonst zwei Tage lang schrecklich.

Die plakativen Parolen unserer Jugend haben wir nicht vergessen, sie sind vielleicht ein bisschen blasser geworden, aber wir machen trotzdem noch den Mund auf: »Nie wieder Krieg!« heißt die Tour und das gleichnamige Album. Und das ist auch der gleich monumentale Opener in der sehr gut besuchten Batschkapp, in der sich Fans kollektiv zweieinhalb Stunden Nostalgie-Me-Time gönnen. Frontmann Dirk von Lowtzow ist etwas hager und ganz schön grau auf dem Kopf, doch in ihm steckt noch der Junge mit den Gitarre, der manchmal herrlich blasierten Stimme und dem wörterverdrehenden Songwriting. Bester deutscher Alternativrock steht hier auf der Bühne, gereift und in echt.

Mit Jan Müller am Bass, der seit seinen Zwanzigern nicht zu altern scheint, dem ewig gelassenen Arne Zank am Schlagzeug und Rick McPhail an der Gitarre. Die zornige Wuchtbalade für den Frieden widmet die Band allen Geflüchteten und setzt dann noch ein »Jugend ohne Gott gegen den Faschismus« drauf.

So viel Politik muss sein, bevor mit dem Liebeslied »Jackpot« die Reise auf der Gefühls-Klaviatur beginnt. »Wenn Du lachst, gehen drei Sonnen auf«: Dirk von Lowtzow singt den Klassiker und spätestens dann entfesselt sich was im Publikum. Man singt laut mit, tanzt, bildet verwegene kleine Moshpits zu der Musik, die von allem etwas ist: Punk, Rock, Pop und Liedermacherei. »Digital ist besser«, »Die Welt kann mich nicht mehr verstehen« oder »Let there be Rock« werden von den Fans lauthals mitgesungen, lange Instrumentalpassagen donnern dazwischen, gehen über in zwei explosive Zugaben-Sets und frenetischen Applaus.

Es werden Teddybären auf die Bühne und ein Handtuch ins Publikum geschmissen. »Im Blick zurück entstehen die Dinge«, heißt es im Tocotronic-Song »In höchsten Höhen«. In Frankfurt schenken sie uns mit ihrer Musik genau das: eine musikalische Rückschau auf die, die wir mal waren. Beseelt geht es dann zurück ins Erwachsenenleben. Bis wir uns wiedersehen. In zehn Jahren oder so.

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