Zwischen Broteinheiten und Insulin
Gesundheit: Wie Kinder und Eltern in der Selbsthilfegruppe »Zuckerteufel« lernen, mit Diabetes zu leben
Beim Kegelspaß an der Marktheidenfelder Tennishalle trinken die meisten Kinder Cola light. Das ist auch schon das einzige Indiz für ihre Diabetes-Erkrankung. Bei den »Zuckerteufeln«, einer Selbsthilfegruppe für Kinder mit Diabetes Typ 1 im Raum Marktheidenfeld und Wertheim, treffen sie sich regelmäßig, um gemeinsam zu kegeln, Ausflüge zu unternehmen und vor allem sich auszutauschen. »Man denkt, jetzt ändert sich das ganze Leben - und das tut es auch«, sagt Hannahs Mutter Eva Schürmann. Dann lacht sie laut über das, was sie gerade gesagt hat. Das war nicht immer so. Als Hannah drei Jahre alt war, bekam sie plötzlich unbändigen Durst und musste ständig auf die Toilette. Der Arzt schickte sie sofort ins Krankenhaus und dann kam der Schock: Diagnose Diabetes.
Bestimmt vom Essensplan
»Das erste viertel Jahr war schrecklich, sagt Eva Schürmann. Ihre ganze Welt drehte sich nur noch um die Krankheit ihrer Tochter. Für die damals alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern besonders schlimm. Die kleine Handwaage wurde zum ständigen Begleiter. Mal eben eine Pommes essen - unmöglich. Wiegen, Messen, Rechnen - vor jeder Mahlzeit. »Aber es ist nicht nur das Essen, dass sich ändert. Das ganze Bauwerk drum herum bestimmt das Leben«, sagt Schürmann. Damals musste sie ihrer Tochter das Insulin noch spritzen. Feste Essenszeiten regelten den Tagesablauf der Familie.
Aber was tun, wenn das Kind um 10 Uhr als zweites Frühstück keine zwei Broteinheiten zu sich nehmen möchte? »Dann musste es trotzdem sein«, sagt Schürmann. Und wenn der ältere Bruder um 13 Uhr nach der Schule Hunger hatte, musste er trotzdem bis 15 Uhr warten. Ein spontaner Kinobesuch am Abend - ebenfalls nicht machbar. Schließlich musste um 18 Uhr und 20 Uhr gegessen werden. Und das Frühstück gab es jeden Morgen um 7.30 Uhr, ob sonntags, feiertags oder in der Ferien. Der »Freischlag« für die Schürmanns und viele andere Familien kam mit einer neuen Therapieform und dem schnellwirkenden Analoginsulin. Alle Kinder bei den »Zuckerteufeln« sind heute mit einer Insulinpumpe gut eingestellt. Damit lässt sich schneller reagieren und die Diabetiker-Kinder können fast wie gesunde Kinder leben. Zwar müssen sie noch immer regelmäßig ihren Blutzuckerwert überwachen und die Broteinheiten ausrechnen, aber dem festen Tagesgerüst sind sie entkommen.
Erfahrung statt Waage
»Die Kinder sind sehr gut im Berechnen und Schätzen«, erklärt Heidi Lutz, Leiterin der Selbsthilfegruppe. So kommt auch bei den Schürmanns die Handwaage nur noch selten zum Einsatz, denn die Erfahrungswerte haben sie verdrängt. »Dennoch ist der Insulinbedarf von Kind zu Kind unterschiedlich«, erklärt Lutz. Bei Schnupfen braucht das eine Kind mehr Insulin, bei Sport das andere weniger, Stress verändert den Stoffwechsel und ebenso das natürliche Wachstum.
»Viele Eltern fragen sich, was sie falsch gemacht haben, wenn der Wert mal wieder hoch ist. Aber sie haben nichts falsch gemacht. Kinder verändern sich einfach ständig«, sagt Lutz. Als betroffene Mutter weiß sie selbst von durchwachten Nächten zu berichten und dennoch macht sie anderen Mut: Es hilft, von den Erfahrungen der anderen zu lernen. 2004 hat sie deswegen die Selbsthilfegruppe mitgegründet. Neben den Treffen der Kinder wird auch ein Elternstammtisch angeboten. Seit Herbst gibt es eine zweite Kindergruppe: die Zuckerteufelchen. Denn viele Neuzugänge sind zwischen zwei und sieben Jahre alt, während die »alten Hasen« schon acht bis zwölf Jahre alt sind.
Jahre bringen Gelassenheit
Das Alter bringt Gelassenheit. »Wir gehen heute viel lockerer mit dem Diabetes um«, sagt Schürmann. Und für Hannah ist die Nadel in ihrem Bauch fast selbstverständlich. Alle paar Tage wechselt sie sie selbstständig. Andere Kinder gehen offen mit der Erkrankung ihrer Freundin und Mitschülerin um. Sie sind neugierig und wollten am Anfang zuschauen, als Hannah noch Insulin spritzen musste - bis es dann langweilig wurde. Dass Hannah so normal aufwachsen kann, verdankt sie auch dem Kindergarten und ihrer Schule, die sie als Diabetikerin aufgenommen haben. »Da hatten alle Kinder unserer Selbsthilfegruppe Glück, denn das ist nicht selbstverständlich«, erklärt Lutz.
Hannahs Mutter ist selbst in den Kindergarten gegangen und hat die Erzieherinnen überzeugt und geschult. Andere Kindergärten und Schulen lehnen aber Diabetiker-Kinder von vornherein ab. Dem Kind, das zwar einen Schwerbehindertenausweis hat, aber weder geistig noch körperlich leistungsschwächer ist, bleibt dann nur die Förderschule.
Kreativität gefragt
So dringt die unsichtbare Krankheit, die erst einmal keine äußerlichen Symptome verursacht, wie ein Virus in alle Lebensbereiche vor. Von den betroffenen Kindern und Eltern fordert sie viel Eigeninitiative und Durchhaltevermögen - und auch Kreativität. So hat Hannahs Mutter zur Einschulung ihrer Tochter ein eigenes System mit einer Zahlentabelle, farbigen Kennzeichnungen und farbigen Brotboxen entwickelt. Obwohl Hannah noch nicht rechnen konnte, war sie damit in der Lage selbst zu bestimmen, wie viel Insulin sie korrigieren und beim Essen zusätzlich an ihren Körper abgeben muss.
Von dem System haben alle Kinder in der Gruppe profitiert, denn alle Eltern haben es übernommen. Auch bei Kleinigkeiten lernen sie voneinander und geben sich gegenseitig Tipps für den Alltag. »Die Krankheit zu verheimlichen, bringt nur Probleme«, ist sich Heidi Lutz sicher. Vorteile hingegen biete das Leben auf dem Dorf: Denn je mehr Bekannte von der Erkrankung wissen, desto sicherer ist das Kind, sollte doch mal eine Unterzuckerung auftreten.
Bianca Löbbert
Mehr Infos über die Selbsthilfegruppe bei Heidi Lutz unter Tel.: 0 93 42 / 21 40 40.
