Heilpädagogische Tagesstätte: Kreuzschwestern eröffnen neue Gruppe für Jugendliche
Unterstützung auch für jungen Iraker Avindar
Deshalb lernt Avindar fleißig. Dabei helfen ihm die Kreuzschwestern Gemünden: Der Junge aus Main-Spessart wird hier in der neuen Gruppe für Jugendliche der Heilpädagogischen Tagesstätte (HTP) unterstützt.
Auch das Curriculum einer Mittelschule kann schwer sein, wenn man erst vor wenigen Jahren nach Deutschland gekommen ist. Avindar spricht zwar schon sehr gut Deutsch. Doch bei manchen Hausaufgaben muss er sich richtig durchbeißen. Sein Vater, bei dem er lebt, kann ihm nicht helfen. Er beherrscht noch kaum Deutsch. In der Heilpädagogischen Tagesstätte wird der Mittelschüler montags bis donnerstags an jedem Nachmittag intensiv unterstützt.
Mit der neuen HTP-Gruppe gibt es zum ersten Mal in Main-Spessart ein teilstationäres heilpädagogisches Angebot für Jugendliche, die wie Avindar soziale oder seelische Probleme haben. Eröffnet wurde die Gruppe zu Beginn dieses Schuljahres. Acht Plätze stehen laut Einrichtungsleiterin Kerstin Ries zur Verfügung, sechs sind im Augenblick besetzt. Die neue Gruppe ergänzt das Angebot der Kreuzschwestern: Bereits seit 1998 werden Kinder im Alter von sieben bis zwölf Jahren nach dem Schulunterricht heilpädagogisch betreut. Dafür stehen pro Schuljahr neun Plätze zur Verfügung.
Viele der in den beiden Gruppen betreuten Schüler wurden vom Schicksal gebeutelt. Avindar zum Beispiel wuchs in einem vom Krieg zerrütteten Land auf, in dem es immer wieder zu Gewalt zwischen ethnisch-religiösen Gruppen kommt. Ständig sterben im Irak deswegen Menschen. Avindar ist der Gewalt durch seine Flucht entronnen. Er genießt es sehr, wie er sagt, dass er nun im friedlichen Deutschland leben darf. Doch sein Glück wird getrübt: »Meine Mutter und meine fünf Geschwister leben noch immer im Irak.«
Avindar würde sich viel besser fühlen, könnte er in der Nähe seiner Mutter sein. Doch wer weiß, wann das sein wird. Umso wichtiger ist für ihn die HTP-Gruppe: »Es gefällt mir sehr gut hier, ich finde, wir arbeiten wie in einer Familie zusammen.« Gedacht ist die Gruppe für Jugendliche im Alter zwischen 11 bis 15 Jahren. Die gehen in verschiedene Schulen im Landkreis und kommen nach Ende ihres Unterrichts in Gemünden zusammen. Der Nachmittag beginnt mit einem gemeinsamen Essen. »Das ist eine wichtige Zeit der Begegnung«, erläutert Gruppenleiterin Nicole Seufert.
Beim Essen kann man seinen Ärger ablassen, sollte etwas Blödes vorgefallen sein. Witzige Vorkommnisse werden ausgetauscht. Die Jugendlichen erzählen einander außerdem von sich, ihren Interessen und Hobbys. Auf diese Weise werden neue Freundschaften angebahnt.
Spätestens um 13.30 Uhr sind alle um den Tisch versammelt. Mindestens eine halbe Stunde ist für das gemeinsame Mahl Zeit, bevor es an die Hausaufgaben geht. Sind die fertig, können sich die Jugendlichen auf dem Außengelände der Kreuzschwestern mit Spiel- und Sportplatz austoben.
Die Jugendlichen sind aus ganz unterschiedlichen Gründen in der Einrichtung. Meist ist die Familie sowie die Schulsituation sehr belastet. "Die Aufnahmekriterien sind vielfältig und reichen von Autismus über ADHS bis zur psychischen Erkrankung eines Elternteils", berichtet Ries.
„Mit allen Eltern der Kinder und Jugendlichen arbeiten wir eng zusammen“, berichtet Heilpädagogin Daniela Wieden. Es finden regelmäßige Elterngespräche statt. Dabei geht es um einen Austausch und eine Beratung der Eltern mit dem Ziel, das familiäre System zu stabilisieren. Mit dem Blick auf Ressourcen der Kinder und Eltern soll der Verbleib des Kindes in der Familie gesichert werden. „Wir schauen individuell wo die Schwierigkeiten liegen und Unterstützungsbedarf notwendig ist“, betont die Einrichtungsleiterin.
Einige leben sehr zurückgezogen. Vielleicht wegen einer seelischen Krankheit. Oder weil sie, wie Avindars Vater, nicht aus Deutschland stammen und noch nicht richtig Fuß gefasst haben. In diesem Fall wird oft mit den Eltern versucht, das Kind in einen örtlichen Verein zu integrieren.
Werden Kinder nicht gut von ihren Eltern unterstützt, kann das ein großes Hemmnis für ihre Entwicklung sein: Diese Erkenntnis steckt hinter heilpädagogischen Angeboten für Jungen und Mädchen.
Ohne eine professionelle soziale und emotionale Förderung laufen die Kinder Gefahr, ihr ganzes Leben lang weit hinter ihren Möglichkeiten zu bleiben. Vielleicht, weil sie in ihren eigenen Augen Versager sind. Oder weil sie ihre eigenen Stärken nie kennengelernt haben.
Bei Kindern, die unterstützt werden, kann sich eine Wandlung vollziehen. Sie gewinnen, wie Avindar, den Mut, ein Ziel, das ihnen vor Augen schwebt, allen Widerständen zum Trotz weiterzuverfolgen. Avindars festes Ziel ist es, nach der Mittelschule einen Beruf zu erlernen, der ihm und seiner Familie ein gutes Leben ermöglicht. Was genau das sein könnte, weiß er noch nicht. Aber er hat ja auch noch Zeit.
In heilpädagogischen Tagesstätten werden Kinder und Jugendliche unterstützt, die aufgrund Ihres Verhaltens oder Ihres Entwicklungsstandes einer heilpädagogischen Betreuung und Förderung in teilstationärer Form bedürfen.. Das kann unterschiedliche Gründe haben. Im Einzelnen können dies Entwicklungsdefizite, Auffälligkeiten im emotionalen, sozialen und psychischen Bereich, systemischen Belastungen und/oder Störungen im Lern- und Leistungsbereich oder ein eventuell drohender Schulausschluss sein. Die Jugendhilfemaßnahme »Heilpädagogische Tagesstätte« wird in der Regel vom Jugendamt finanziert.
