Wie drei Frauen aus der Region Aschaffenburg nach Feierabend fürs Abitur lernen
Abendgymnasium in Darmstadt
Die Zwillingsschwestern Halime und Safiy Gülsoy (beide 21) aus Aschaffenburg und Zohra Kaddour (26) aus Stockstadt stehen beispielhaft für die insgesamt rund 200 Studierenden, die das 1955 gegründete staatliche und damit für Lernende kostenfreie Gymnasium nahe der Darmstädter Lichtwiese aktuell besuchen. Alle drei Frauen haben einen mittleren Schulabschluss, alle drei streben nach Ausbildung und Berufstätigkeit nun mit dem Abitur den Zugang zum Studium an.
Safiy Gülsoy ist als zahnmedizinische Fachangestellte in einer Zahnarztpraxis tätig, ihre Schwester Halime hat Hauswirtschafterin gelernt und arbeitet bei Edeka. Einen Studienplatz für Zahnmedizin und Psychologie - das sind ihre hohen Ziele, für die sie seit Februar 2022 die Strapazen der täglichen Fahrt nach Darmstadt und des Schulbesuchs dort in Kauf nehmen. Nach der Arbeit wohlgemerkt, am Nachmittag und Abend.
An Doppelbelastung gewöhnen
Zohra Kaddour, die medizinische Fachangestellte ist, hat 2019 am Abendgymnasium begonnen, wurde dann Mutter, setzte den Bildungsweg auch mit Kind fort und will im Frühjahr 2023 in die Prüfungen zur Allgemeinen Hochschulreife gehen. Das Fachabitur hat sie bereits in der Tasche. Ihr Ziel: Medizin zu studieren. Ihr Ehemann und die Schwiegermutter unterstützen Zohra Kaddour dabei.
Alle drei Frauen brennen für ihren jeweiligen Traum, den sie zielgerichtet angehen. Dass ihnen aus ihrem familiären Umfeld und dem Freundeskreis viel Respekt für den Schulbesuch gezollt wird, motiviert sie zusätzlich. Dennoch ist der Bildungsgang kein Zuckerschlecken. "Aber man gewöhnt sich an die Doppelbelastung", ermutigt Zohra Kaddour.
In zwei Blöcken zwischen 14 und 19 Uhr sowie von 17.30 bis 22 Uhr, jeweils montags bis freitags, unterrichten die 13 Lehrkräfte im Team von Schulleiter Holger Darmer (57) die Klassen mit höchstens 20 Studierenden. Ferien gibt es wie an anderen hessischen Schulen auch. Es sei "ein Privileg, hier arbeiten zu können", sagt Darmer, der seit elf Jahren am staatlichen Abendgymnasium tätig ist und es seit 2021 leitet. Wie seine Kollegen ist er ausgebildeter und verbeamteter Lehrer, er kommt von der Berufsschule.
Interessante Biografien
Was macht das Unterrichten am Abendgymnasium so besonders? Darmer muss nicht lange überlegen: "Wir haben es mit Erwachsenen zu tun, die sich bewusst für die Schule entscheiden, die Spaß am Lernen haben und die nötige Reife." Elternarbeit gebe es gar nicht, dafür aber ein "ganz normales Schulleben" mit Festen, Exkursionen oder Theateraufführungen. Die Studierenden brächten interessante Biografien mit, oft sei ihr Lebensweg nicht schnurgerade verlaufen, teilweise seien sie auch verunsichert durch frühere Erfahrungen mit Schule, Lernen und Bildung.
Schulleiter Darmer und sein Team wollen den Lernwilligen dabei so gut es geht helfen. Sie wissen, dass der Unterricht, das Lernen für Prüfungen, die Hausaufgaben, eine enorme Belastung neben der eigentlichen Berufstätigkeit oder Haushaltsführung sind. "Wir als Schule müssen da Rücksicht nehmen", sagt Darmer.
Wer kann das Abendgymnasium besuchen? Bewerber müssen beim Eintritt in den Vorkurs mindestens 18 Jahre alt sein, den Hauptschulabschluss in der Tasche haben und seit mindestens 18 Monaten einen Beruf ausüben oder einen Familienhaushalt führen. Auch Arbeitslosigkeit wird berücksichtigt. Nötig ist zudem ein Test in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch. Von dessen Ergebnis hängt ab, ob die Studierenden zunächst den halbjährigen Vorkurs absolvieren müssen oder gleich in die dreijährige gymnasiale Oberstufe eintreten können. Nach maximal dreieinhalb Jahren Schule steht dann die Abiturprüfung an.
Keine Altersgrenze
Das Abendgymnasium ist eine so genannte "Angebotsschule", alle Studierenden dort haben die Pflichtschulzeit hinter sich oder sind zu alt, um ein "normales" Gymnasium zu besuchen. Im Schnitt zwischen 20 und 35 Jahre alt seien seine Studierenden, erzählt Darmer. Eine Altersgrenze gibt es nicht. Dies sei auch eine riesige Chance für Flüchtlinge, meint der Leiter, dessen Schule "sehr gut vernetzt ist mit Jobcentern, freien Bildungsträgern und Behörden". Da Geflüchtete oft zu alt für den normalen Schulbesuch seien, könnten sie am Abendgymnasium nach entsprechenden Deutschkursen ihre Abschlüsse machen. "Es ist von höchster Wichtigkeit, diese Menschen in unser System zu integrieren", betont Darmer.
Nicht alle, die im Abendgymnasium starten, bleiben auch bis zur Abschlussprüfung. Etwa ein Drittel der Studierenden breche ab, bedauert Darmer. Dabei sei nicht die Schule selbst der eigentliche Grund, sondern oftmals das soziale, berufliche Umfeld. "Wenn in der Familie, beim Arbeitgeber keine Akzeptanz da ist, wird das sehr schwer." Immer mal wieder auftretende Konflikte zwischen Arbeitsplatz und Schule versucht Darmer in persönlichen Gesprächen zu schlichten. Halime und Safiy Gülsoy sowie Zohra Kaddour machen Mut: "Einfach mal den Test probieren und schauen, ob's klappt. Man wird hier nicht alleine gelassen!"
Das staatliche Abendgymnasium Darmstadt ist Teil des Verbunds "Schule für Erwachsene" des hessischen Kultusministeriums. Der neue Abitur-Bildungsgang beginnt im Februar 2023 mit dem Vorkurs. Der Schulbesuch ist kostenfrei, es ist ein Aufnahmetest erforderlich. Am Mittwoch, 23. November, sowie am Montag, 19. Dezember, findet jeweils um 19 Uhr ein Info-Abend (online) statt. Der Link zur Teilnahme steht auf der Homepage der Schule. In deren Zweigstelle in Groß-Gerau können Haupt- und mittlerer Schulabschluss nachgeholt werden.
Auch in Frankfurt gibt es ein kostenfreies staatliches Abendgymnasium, in Offenbach eine staatlich anerkannte Schule in freier Trägerschaft. Das dem Untermain am nächsten gelegene bayerische Abendgymnasium sitzt in Margetshöchheim bei Würzburg und ist eine private Schule der Fränkischen Akademie. (comü)
Im Internet: www.abendgymnasium-darmstadt.de, www.abendgymnasium-frankfurt.de, www.abendgymnasium-offenbach.de; Bayern: www.abendgymnasien.de
